Sebastian 23
Online sein
Untertitel: Nein, ich möchte keinen Problembericht an Microsoft senden.
Ich bin online.
Ich bin so online, dass mein Avatar mir ähnlicher sieht, als mein Spiegelbild.
Ich bin so online, ich klicke Frauen zweimal an, wenn ich Sex möchte. Hab ich Freundin gesagt? Ich meinte Maus.
Ich bin so online, ich lach nicht mehr, ich sage LOL.
Ich bin so krass online, ich sitze @ Schreibtisch und klaue Texte @ Lars.
Ich bin so voller Internetsprache, dass Kommunikation mit meiner Oma unmöglich geworden ist.
»Junge, möchtest du einen Keks?«
»ROFL. Yeah, ihr Noobs, Oma owned euch alle @ Keksbacken.de!« Doppelpunkt, Klammer zu.
Egal.
Denn ich bin so online, ich hab eine Flatrate beim Pizzataxi und der Gegenwert meines Flaschenpfandes macht meine Wohnung zum postmodernen Bernsteinzimmer.
Ich bin so online, ich kann mein E-Mail-Passwort schneller tippen als meinen Namen.
Ich bin so online, ich bin ein Diener des Servers. Serve of the Servants somehow.
Ich bin so online, ich kann grade noch von 0 bis 1 zählen…
Ich bin so newsletter, ich weiß weit und breit über jeden Scheiß Bescheid.
Ich bin so Secondlife, dass die Realität bei mir die zweite Geige spielt.
Ich bin so Counterstrike, ich hab gar keine Zeit mehr in die Schule zu gehen und Amok zu laufen.
Ich bin so google, dass ich den Sinn des Lebens gegoogelt und gefunden habe. Ja, das geht.
Ich bin so ICQ, dass ich sogar das fiese Nebelhorn beim Hochfahren liebe.
Ich bin so flickr, weil mich die flackernden Bilder auf lodernden Bildschirmen locken.
Ich bin so myspace, ich hab über tausend Freunde. In echt.
Ich bin so Popup-Werbung… Plöpp. Herzlichen Glückwunsch! Sie sind der 1.000.000ste, der mich fragt, warum ich ausgerechnet Sebastian 23 heiße. Sie gewinnen einen nagelneuen genervten Gesichtsausdruck. Fenster schließen.
Ich bin so youtube, denn youtube killed the video star.
Ich bin so StudiVZ, nenn mich Gruscheltier.
Ich bin so gmx, komm, lass uns den eh schon fast toten Postboten töten.
Internet-Männer haben keine Gefühle. Internet-Männer haben Smilies.
Und ich bin so up to date, ich weiß natürlich, dass es längst nicht mehr Smilies heißt, sondern Emoticons. Ich kann sogar das Papst-Emoticon: +<:-) Ich hab nur die Mail noch nicht geschrieben, in der ich das verwenden könnte. Aber eines Tages!
Ich bin so online, ich sage euch, die Realität ist überbewertet. Was ich an der Wirklichkeit bewundere sind höchstens die hohe Auflösung und die Farbtiefe. Was benutzt dieser Gott-Typ für eine Grafik-Karte? Echt krass.
Ich bin ganz heftig online! Yeah!
Und ihr?
Wer von euch hat keinen mp3-Player?
Wer hat keine Digitalkamera?
Wer weiß jemanden, der keine E-Mail-Adresse hat?
Wer weiß jemanden, der nur eine E-Mail-Adresse hat?
Wer kennt jemanden, der noch nie ein illegal runtergeladenes Lied gehört und noch nie einen raubkopierten Film gesehen hat?
Wer hat sich noch nie selbst gegooglet?
Wer hat schon mal einen Freund an ein Online-Spiel verloren?
Wer war noch nie in einem Internetcafé?
Wer hätte diesen Text vor 20 Jahren schon verstanden?
Wer hätte diesen Text vor 10 Jahren schon verstanden?
Wer versteht diesen Text heute?
George Orwell hat einmal geschrieben: »Wer verstehen will, wie sehr Maschinen unseren Alltag bestimmen, der möge sich jetzt sofort einmal umschauen.«
Er schrieb dies 1932.
Heute ist 1984.
Ich bin online.
Sonst nichts.